Corona ist zum Alltagsthema geworden. Wir wissen viel über Hygienevorschriften und Distanz, um körperlich gesund zu bleiben. Wissen wir auch genug darüber, was unsere Seele braucht? In den ersten Wochen der Pandemie waren wir damit beschäftigt, uns auf die neue Situation einzustellen, nun besteht die Herausforderung darin, trotz unklarer Perspektive, unser Leben zu gestalten. Doch geht das in den eigenen vier Wänden überhaupt, wenn diese stetig enger werden?
Nach einigen Wochen der Ausgangsbeschränkungen, häuslicher Isolation oder Quarantäne befinden wir uns nun in einer Phase der Anpassung. Wir funktionieren bereits unter den gegebenen Umständen, nun folgen viele Herausforderungen, die es in der Form zuvor nie gab. Eine davon ist der Pandemie-Lagerkoller. Auf engsten Raum über Wochen zusammenzusein, Home-Office, Home-Schooling, keine Freizeitangebote, keine externe Kinderbetreuung und eingeschränkte Perspektiven sind Belastungen, die schwer wiegen. Hinzu kommt, dass jede/r mit einer Vorgeschichte in die Situation geschlittert ist. Ein neuer Job, Aufbauprojekte aller Art, langjähriger Verzicht, bestehende Krankheiten und Trauer waren auch ohne Corona eine Herausforderung. Und nun? Wir haben immer noch Pläne und Ziele bzw. Krankheiten und Gefühle von Verlust und Trauer, sind aber die meiste Zeit damit beschäftigt zu funktionieren. Außerdem sind wir uns weitestgehend selbst überlassen. Eine Aufgabe, die gerade in Krisenzeiten belastend sein kann. Was also tun, wenn die eigenen vier Wände nicht nur schützen, sondern auch dann und wann zum Gefängnis werden?
Gleich vorweg: An manchen Tagen einen Lagerkoller zu haben ist völlig ok. So geht es gerade den meisten. Schlechte Stimmung, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Wut, emotionale Erschöpfung, Frustration und Langeweile sind berechtigt. Schließlich wiegen Freiheitsentzug, Kontrollverlust und wenig Privatsphäre schwer. In den meisten Fällen bringt aber ein neuer Tag wieder neue Energie. Auch ein Lagerkoller über zwei bis drei Tage hinweg ist noch kein Grund zur Besorgnis. Vor allem dann nicht, wenn Sie nicht die Zuversicht verlieren, dass sich die Zeiten bald schon wieder ändern werden. Wenn der Lagerkoller jedoch besonders hartnäckig ist, braucht es unser aktives Zutun. Im Folgenden finden Sie elf Tipps, damit umzugehen. Alle gelten natürlich auch für die kommenden Wochen und Monate. Denn selbst wenn die Einschränkungen nach und nach fallen werden, ist ein Leben wie wir es gewohnt waren, vorerst noch nicht möglich.
WAS KANN ICH TUN?
Tipp #1: WÜRDIGUNG
Die Situation ist nicht einfach. Ängste, Überforderung und Frustration sind kein Versagen. Home-Office, Home-Schooling, Haushalt, Fitness und kaum zwischenmenschliche Kontakte zollen ihren Tribut. Würdigen Sie Ihre Bemühungen und setzten Sie sich nicht selbst unter Druck. Sich auch negative Gefühle zu erlauben befreit von übertriebenen Ansprüchen. Bitten Sie um Verständnis bei Ihren Mitmenschen und zeigen Sie es vor allem sich selbst gegenüber.
Tipp #2: IN KONTAKT BLEIBEN
Der Mensch als soziales Wesen braucht andere, um zu gedeihen. Wenn körperliche Nähe momentan nicht möglich ist, nutzen Sie Telefon, Videotelefonie, soziale Medien oder E-Mails, um sich mit anderen auszutauschen. Das reduziert nicht nur das Gefühl von Einsamkeit, sondern stärkt die Beziehung (gemeinsam durch dasselbe Schicksal zu gehen verbindet) und hilft beim Einordnen der eigenen Erlebnisse. Wie sehe ich die Situation? Wie sehen sie andere?
Tipp #3: ROUTINE AUFBAUEN
Eine Struktur aufzubauen ist wichtig. Unbekanntem begegnen wir am besten mit einem Gerüst an Aktivitäten. Arbeitszeit, Lernzeit, Spielzeit, Zeit für sich und Zeit für Heim und Haushalt sind Eckpfeiler, die uns durch schwierige Zeiten führen. Aber gehen Sie mit den Zeitblöcken flexibel um. Wir können in einer herausfordernden Situation wie dieser nicht gleich gut funktionieren oder ebenso konsequent agieren, wie in der Zeit davor. Wir haben mittlerweile deutlich mehr Aufgaben, fordern Sie daher nicht von sich und anderen, alle davon penibelst zu erfüllen.
Tipp #4: NICHT DURCHHALTEN, LEBEN
In diesen Tagen werden wir von unterschiedlichsten Seiten dazu aufgefordert, durchzuhalten. Was in vielen Disziplinen wie dem Sport beispielsweise ein guter Motivationsgedanke ist, möchte ich im Zusammenhang mit der Pandemie durch etwas Wesentliches ergänzen: LEBEN SIE. Warum das einen Unterschied macht?
1. Durchhalten können wir nur begrenzt.
2. Solange wir die derzeitigen Umstände nicht annehmen, verlieren wir einen Teil unserer Energie. Anpassung in seiner kreativsten Form geschieht erst dann, wenn wir die Gegebenheiten akzeptieren.
3. Durchzuhalten schätzt die gegenwärtige Zeit gering. Sie ist Teil unseres Lebens und nicht nachzuholen.
4. Der Aufruf zum Durchhalten könnte irrtümlich die Hoffnung wecken, wir werden irgendwann zur ursprünglichen Normalität zurückkehren.
5. Wer nur durchhält bündelt seine „letzte Kraft“ und läuft Gefahr zu glauben, ein Gestalten der Umstände sei unmöglich.
6. Durchzuhalten verleitet dazu, schneller zu „verfallen“ bzw. sich gehen zu lassen. Zur Erinnerung: Kleine Schritte in der Krise können der nötige Kickstarter für die Zeit danach sein.
7. Versuchen wir durchzuhalten und die Maßnahmen werden wieder restriktiver, kann das zu Enttäuschungen, gedanklicher Lähmung bis hin zu einer Opferhaltung führen.
8. Bei einem Marathon, den wir zweifelsohne zu bestreiten haben, ist es wenig zielführend die LäuferInnen von Beginn an zum Durchhalten aufzufordern. Trauen wir uns den Lauf ruhig zu, wir haben Erfahrung.
Tipp #5: BEWEGUNG
An sonnigen Tagen ist der Aufenthalt im Freien besonders ratsam. Das Sonnenlicht erhellt nicht nur unsere Stimmung, sondern fördert zudem die Vitamin D Produktion. Und Vitamin D ist wichtig für Immunsystem und Knochen. Ein Spaziergang von mindestens 20 Minuten pro Tag wird empfohlen. In der Nahrung kommt das Vitamin übrigens unter anderem in Käse, Pilzen, Eiern, Lachs, Makrelen und Heringen vor. Aber Achtung: Jetzt ist nicht die Zeit für sportliche Höchstleistungen. Bewegung soll Freude bereiten, um Glückshormone zu aktivieren. Kräftezehrende Sportarten können Gegenteiliges bewirken.
Tipp #6: GEMEINSAME FREIZEIT
Familien sind gerade vorwiegend damit beschäftigt, Aufgaben aufzuteilen. Was zu kurz kommt ist meist gemeinsame Freizeit. Zusammen spazieren zu gehen, zu spielen, zu tanzen oder einfach nur die Seele baumeln zu lassen sind wichtige Elemente, um die gestiegenen Herausforderungen nicht durchhalten zu müssen, sondern auch mit Leben zu füllen. Wichtig: Alleinlebende brauchen mindestens genauso viel zwischenmenschliche Seelenstreichelzeit. Vielleicht gibt es die Möglichkeit mit Nachbarn gemeinsam zu singen, zu spielen oder sich einfach auszutauschen? Über die Balkone hinweg lässt sich auch ein Gefühl von Gemeinschaft entwickeln. Vieles ist momentan anders, aber nicht unmöglich.
Tipp #7: RÜCKZUGSMÖGLICHKEITEN
Zeit allein zu verbringen ist in jedem Fall eine wichtige Quelle der Balance. Auch wenn viele Familienmitglieder auf engem Raum zusammenleben, braucht es immer wieder Zeit allein, um Gedanken zu sortieren und Ruhe zu finden. Suchen Sie gemeinsam nach Lösungen, wie Sie für jedes Familienmitglied Rückzugsmöglichkeiten schaffen können. Ist das gelungen, braucht es nicht unbedingt eine aktive Tätigkeit, um sich zu erholen. Gerne wird momentan propagiert, sich Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung zu nehmen. Oft fehlt die Zeit für intensives Auseinandersetzen mit den "großen" Themen. Keine Sorge, die Persönlichkeit entwickelt sich ganz nebenbei. Setzen Sie sich nicht unter Druck und genießen Sie statt dem fünften Online-Persönlichkeitstraining einfach die Stille des Augenblicks.
Tipp #8: BASTELN, MALEN, HANDWERKEN
Wann immer Zeit bleibt empfiehlt sich eine kreative Tätigkeit. Nicht nur um den Moment zu erhellen, sondern um sich auch später am Ergebnis zu erfreuen. Kreativität ist Ausdruck der Seele. Lassen Sie Ihre Gedanken Gestalt annehmen. Sie kanalisieren damit empfundene Unsicherheiten und negative Gefühle. Nicht zuletzt werden Sie, wenn die Zeiten wieder vielfältiger werden, sich mit dem Kunstwerk daran erinnern, wie stark Sie waren.
Tipp #9: NACHRICHTENKONSUM REDUZIEREN
Informiert zu sein ist wichtig, mit Informationen bombardiert zu werden, ungünstig. Begrenzen Sie jedenfalls die Aufnahme der Informationen und achten Sie auf die Quelle. Sich von früh bis spät mit Schreckensszenarien berieseln zu lassen ist keine gute Strategie. Im ungünstigsten Fall entwickelt sich sogar eine überdauernde Angst, die vorgaukelt, nur mehr in den eigenen vier Wänden sicher zu sein. Da aber der Lagerkoller genau diese bedrohlich wirken lässt, steigen Verwirrung und Stress.
Tipp #10: TAGEBUCH FÜHREN
Tagebuch zu führen ist ein bewährtes Mittel, um Gedanken zu sortieren. Negatives wird abgelegt und Gutes schriftlich festgehalten. Achtung: Es müssen keine seitenlangen Tagebucheinträge sein, meist genügen wenige Minuten der Reflexion. Entweder Sie nehmen dazu ein leeres Notizbuch oder Sie halten Ihre Gedanken zum Beispiel in meinem Tagebuch "365 Tage Leben - Ihr Tagebuch für das Wesentliche" fest. Tägliche fünf Minuten genügen und Sie werden nicht nur diese außergewöhnliche Zeit schriftlich festhalten, sondern ganz nebenbei die Wirkung unzähliger Inputs, Übungen und Impulsfragen erleben.
Tipp #11: KUMMERNUMMER
Alleine durch diese Zeit zu gehen ist wohl eine der größten Herausforderungen überhaupt. Vom Alleinsein, das wichtig für unsere Regeneration ist, zur Einsamkeit ist es oft nicht weit. Lassen Sie mich daran erinnern: Sie sind nicht alleine. Professionelle Hilfskräfte stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Anonym und kostenlos wird Ihnen rund um die Uhr geholfen. Nützen Sie dieses Angebot, wenn gerade alles zu viel wird. Gedanken haben besonders in der Einsamkeit die Eigenschaft zu quälen und zu erklären, es gäbe keinen Ausweg. Sorgen Sie gut für sich und sprechen Sie mit anderen über Ihre Gemütslage. Oft sind sogar Inputs von neutralen Personen besonders hilfreich, um wieder klarer zu sehen.
Achten Sie aufeinander und bleiben Sie bzw. werden Sie schnell wieder gesund.
Herzlichst Tamara Nauschnegg
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